Musikwerke in Bewegung interpretieren (in: Reinhard Ring, Die musikalische Bewegung, Solingen 1990) 

Das Thema des Internationalen Rhythmikseminars 1989 "Die künstlerische Seite der Rhythmik" hat mich zum Nachdenken über eine Selbstverständlichkeit in unserem Fach angeregt, der Interpretation von Musikwerken in Bewegung. Teilbereiche des Verhältnisses werde ich in meiner Darlegung zurückstellen, wie die Musiklehre in Bewegung, die

Improvisation oder die Darstellung von Tänzen. Hierzu findet sich ohnehin zahlreiche Literatur, in der Musikwerke durchaus mit einbezogen werden.

Die Musikwerke stehen in dieser Unterrichtsliteratur jedoch kaum im Mittelpunkt der Betrachtung, sie dienen lediglich zur Unterstützung oder Veranschaulichung der Übungsthemen, wie Mehrstimmigkeit, Rondoform, Dynamik o.ä. Folglich steht hier die Arbeit mit Elementen der Musik vor der Arbeit mit einem Werk. Zu einer Orientierung an musikalischen Kunstwerken gehört jedoch mehr noch die Werkanalyse, als die Harmonien-, Formen- oder Rhythmusanalyse in Bewegung. Dies ist jedem von uns vertraut und wurde dennoch in der Literatur vernachlässigt, von frühen Aufsätzen Jaques-Dalcroze' einmal abgesehen. Warum eigentlich? Ist "Musikwerke in Bewegung interpretieren" kein typisches Rhythmik-Thema? Das kann nicht sein, werden schließlich in jeder Ausbildung Bewegungsgestaltungen zu Musikstücken verlangt und lassen sich in dieser Praxis der Musikinterpretation bei verschiedenen internationalen Ausbildungsstätten besonders deutlich konzeptionelle Unterschiede erkennen (etwa Genf, Deutschland, USA, Polen).

Die Begegnung mit einem musikalischen Kunstwerk und deren Bewegungsinterpretation - verdeutlichen wir uns einmal das Zusammenwirken der verschiedenen Größen bei diesem Vorgang! Da ist der Komponist, der aus einem bestimmten Zusammenhang heraus (historischen, soziologischen, psychologischen) einen Notentext zu Papier gebracht hat, der musikalische Interpret mit seiner Auslegung und schließlich wir, die Hörer und Bewegungsinterpreten. Jeder ist für die Wirkung des Werkes mitbestimmend. Die Kunst besteht nun darin, trotz der verschiedenen Faktoren einen Zusammenhang der Ideen zu finden. Jeder Interpret muss sich für einen, seinen, Gesichtspunkt zum Werk und damit für einen Ausschnitt aus dem Werk entscheiden. Er nimmt dabei etwas weg. Er fügt damit aber auch etwas von seinem Standpunkt und seinem Verständnis aus hinzu.

Andere Möglichkeiten der Interpretation, z.B. das Zur-Sprache-bringen von Musik, verdeutlichen dies. Durch die Transformation von einem Medium in ein anderes operiert der wissenschaftlich oder literarisch Arbeitende mit der Sprache als einem Material voller Eigengesetzlichkeiten, mit dem er gewissermaßen einen neuen Ausdruck schafft, welcher sich auf den musikalischen bezieht. Auch das instrumentale Interpretieren lä*t sich nur als eigenschöpferischer Akt begreifen. Das beginnt ja bereits bei der Frage, wie wir Bach auf dem Flügel interpretieren können - und berührt auch die Anforderung an technisches Vermögen, die Fähigkeit, mit der wir überhaupt mit einem Instrument umgehen können. Heinrich Neuhaus beschreibt in diesem Zusammenhang die dialektische Triade: "These-Musik, Antithese-Instrument, Synthese-Vortrag" (Neuhaus, S. 3). Versuchen wir dies auf die Bewegungsinterpretation zu übertragen. Aus der (These) Musik entwickelt sich über das Spiel mit dem "Körper als Instrument" (der Antithese) der Vortrag.

 

Musikwerke interpretieren, vielleicht wird dieses Thema klarer, wenn ich Rhythmikaufgaben nenne, die nicht dazugehören. Es geht bei der Werkinterpretation nicht um das Veranschaulichen und Belegen von Lerninhalten zu Musikbausteinen wie in der Elementaren Musiklehre. Es geht ebenso wenig darum, Hören einzig zum Kontrollvorgang für das Erkennen verschiedener Strukturmomente werden zu lassen. Was bleibt da noch übrig? Das Interessanteste! Der Versuch, mit dem Schaffenden zu empfinden und zu denken und vielleicht sogar - metaphorisch gesagt - "mit dem Werk in einen Dialog treten zu können". Dabei bedienen wir uns der verschiedenen Analysetechniken und Bausteine, etwa aus der Formen- und Harmonielehre, als Hilfsmittel zur Beurteilung des Ganzen, anstatt die Werke nur als Beispiele für Unterrichtsübungen zu gebrauchen.

Bei Jaques-Dalcroze spielte die Bedeutung der Ganzheit eines Musikwerks durchaus eine Rolle, er schreibt z.B. über den Interpreten, er müsse das Ganze (der Musik) mit einem "durchgehenden Schauer organischen Lebens" beseelen (Jaques-Dalcroze, S. 188).

Das Ganze - zunächst ist zu fragen, wann wir von einem Werk als ganzes sprechen können. Aus der Musikwissenschaft kennen wir Kriterien, wie Gestaltfestigkeit (inkl. Wiederholbarkeit), einen Sinnzusammenhang (A. Webern: "Möglichst viele Zusammenhänge sollen geschaffen werden" (Webern, S. 60)) und eine Intension zum Hörer. Im "Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (Walter Benjamin) relativiert sich die Bedingung, da* ein Werk auch schriftlich fixiert sein muss. Musikformen, wie der Jazz können durch "mediale Fixierung einen gewissen Werkcharakter annehmen" (Ehrenfort). Charles Rosen führt als Maßstäbe für ein musikalisches Kunstwerk an: Stimmigkeit und Dichte (Rosen, S.33), die Einheit, die wir in einem Kunstwerk spüren. Diese Einheit, Stimmigkeit und Dichte wird nun in unterschiedlichen Stilen verschieden erzeugt. Dazu zwei Beispiele: Die Klassik verleiht meist durch motorische Entwicklungen das Gefühl des Zusammenhanges. Andere Werke, z.B. des Barock sind weniger von der Entwicklung, als von Raumformen geprägt, die Reihenfolge der Themen ist für die Wirkung nicht so entscheidend wie in einer Sonatenform, manchmal ist die Reihenfolge sogar umkehrbar, ohne da* sich Wesentliches ändert.

Um die bereits beschworene "Nähe zum Kunstwerk" und den "Zusammenhang" aller Größen, man könnte auch "Stimmigkeit" sagen, zu erlangen steht in unserer Praxis der Bewegungsinterpretation an erster Stelle das Hören. Hören, Hinhören und Lauschen im Sinne einer festhaltenden Wahrnehmung (Rezeption) ist immer auch von den Vorerfahrungen des Hörenden bestimmt. Heißt die Frage des Bildungsbürgers "Was will uns das Werk sagen" kann man auch fragen "was habe ich erfahren und was finde ich davon in dem Werk?". Nur wenn ähnliche Gefühle und Erfahrungen existieren, bewegt uns ein Werk. Beethoven war kein Tänzer, in manchen Menuetten oder in den Ecossaisen wusste er aber doch offenbar eine Menge von unserer Bewegungsfreude. Jaques-Dalcroze drückte es so aus: Musik als Vorbild für unser Ausdrucksbedürfnis. Hören muss geübt sein, nicht im Sinne eines bloßen Kontrollvorganges (jetzt kommt der A-Teil, das ist die doppelte Subdominant!) sondern als schöpferische Aktivität um genauer, differenzierter und tiefer in die Werkideen eindringen zu können.

Um vom einfachen Hören zum "aktiven Hören", dem Hinhorchen, also zur intensivsten Stufe der Wahrnehmung zu gelangen, hilft uns ein Repertoire an Kategorien und Begriffen. Begriffe, wie Thema, Ablauf, Wiederholung, Einschnitt, Veränderung, Entwicklung, Kontrast können uns ebenso helfen, gestalterische Eindrücke zu treffen wie Repertoirekenntnis. Man gestatte mir einen kulinarischen Vergleich:

Sehe ich nur: Es gibt Nudeln mit Soße, genieße ich in der Regel weniger, als wenn ich mich aufgrund der Bestellung auf Hartweizengrießspaghetti al dente mit Basilikum-Soße freuen kann. So gesehen kann sich auch der Genuss von Musikwerken durch begriffliche Lebenserfahrung mit Musik verbessern.

Nun unterscheidet sich das Interpretieren - auch das Bewegungsinterpretieren - noch von dem reinen Hörgenuss, bei dem wir bei manchen Werken auch gerne durch Bewegung "in die Musik eintauchen" ohne es einem Gegenüber mitzuteilen bzw. mit einem Gegenüber teilen zu können. Jaques-Dalcroze unterscheidet zwischen den ersten als Erfahrungsprozess legitimierten Bewegungen und seiner Form der Rhythmik als Kunst, der Plastique Animée: "Wir haben schon öfter betont, dass man über Rhythmik nicht urteilen kann nach dem bloßen Anblick der Bewegungen, die sie bei den Schülern auslöst. Denn sie ist ein wesentlich persönliches Erlebnis. Die bewegte Plastik dagegen ist eine vollwertige und endgültige Kunst, ... der Plastiker geht bewusst darauf aus, sein Empfinden auf das gesamte Publikum zu übertragen." (Jaques-Dalcroze S. 167).

In unserer Arbeit entwickeln wir folglich nach dem ersten Schritt des Nachahmens oder des Lauschens, was die Musik in uns auslöst die eigentliche Interpretation. Es geht also nicht (zumindest nicht nur) um das Abbilden, sondern um einen eigenen Schaffensakt mit dem Medium Bewegung. Wenn wir über ein Musikstück sprechen, setzen wir die Gedanken und Gefühle in Worte um. In Bewegung ausdrücken ist ein anderer Versuch. Bei beiden bleibt immer ein Restreiz an Geheimnis oder Unsagbarkeit. So wie man ein Musikwerk zerreden kann, kann man ihm auch mit gewollten "zusammenhanglosen" Bewegungen Unrecht tun. Offenbar finden wir auch einen Parallelismus von Musik und Bewegung überflüssig und banal. Ebenso unstimmig ist aber auch ein Zuviel an Eigenleben und Information des interpretierenden Instrumentes. In diesem Feld zwischen zu geringem (platten) und übertriebenem (nicht mehr als Zusammenhang erkennbarem) Auslegen bewegen wir uns. Die Vielzahl an Möglichkeiten der Interpretation lässt sich nur vergleichen mit der (unbekannten) Menge an Möglichkeiten in der innermusikalischen Themenverarbeitung, (es gilt: solange die Möglichkeiten "stimmig" sind = nicht banale Verdopplung und nicht zu viele Informationen) z.B. bei einer Durchführung mit Augmentationen, Diminuitionen, Kontrapunktierungen, Variationen usw. Beispiele: Das Gehörte kann in der Bewegung gedeutet werden, das Motiv kann verarbeitet werden, ihm kann gestisch eine zweite Stimme hinzugefügt werden usw. Eine bloße Wiederholung, bzw. mechanische Übersetzung ist ohne Reiz.

Ein typisches Beispiel für das Bedürfnis nach Komplementärbewegungen - gegen die banale Verdopplung - finden wir in vielen Tänzen, nämlich in der Gegenüberstellung einer 4er-Musik zu einer 6er-Schrittfolge. (Jaques-Dalcroze selbst empfiehlt den Versuch, einem zweiteiligen Takt dreiteilige Motive entgegenzusetzen, wie er es in der orientalischen Musik gefunden hat.) Wir schätzen dieses Phänomen im Hasapikos, Rock'n Roll und Foxtrott.

Die Bedeutung des Stils wurde m. E. in der frühen Rhythmik wenig beachtet. Das lag wohl insgesamt am reformpädagogischen Ausgangspunkt. In dieser Entstehungszeit der Rhythmik hatte man sich um historische Stil-Echtheit wenig gekümmert, denken Sie an die historisierenden Baustile der Gründerzeit oder die Wiederbelebungsversuche des Menuetts mit völlig anderen Schrittfolgen ohne jeden Bezug zum Barock. Jaques-Dalcroze forderte im Pathos seiner Zeit "Einen neuen Stil gilt es zu schaffen... (bei dem der Komponist sich gemeinsam mit dem Tänzer, d. Verf.) auf den Weg nach einer menschlicheren, lebendigeren Kunst begebe" und spricht von den "ewigen Gesetzen" in der Bewegung (Jaques-Dalcroze, S. 189 und S. 197).

Ich möchte einige methodische Folgerungen aus dem bisher Gesagten skizzieren. Für die Rhythmische Erziehung ergibt sich aus der Tatsache der Gleichzeitigkeit oder zumindest der Beziehung von Bewegungen, Gefühlen und Gedanken beim Studium des Werkes, um "es als Vorbild für unser Ausdrucksbedürfnis" zu nehmen, die Unterrichtsmethode. Zu der Aufgabenstellung "Bewegt Euch zur Musik" können weitere Vorgaben gemacht werden. Häufig empfiehlt es sich, auf verschiedenen Ebenen, z.B. für das Bewegungsrepertoire, Einschränkungen und Anregungen vorzugeben.

Es geht um einen Prozesse, der die Interpretationsfähigkeit zu fördern vermag. Beim Finden von Bewegungsideen spielen Hinweise auf gestalterische Besonderheiten, sowohl in der Musik als auch in der Bewegungstechnik, eine Rolle.

Beispiele:

- aufmerksam machen auf sprachliche oder tänzerische Aspekte der Musik

- Vorgabe von Bewegungsmustern, Schrittfolgen, Haltungen und Objekten

- musikanalytische Vorgaben, Werkbeschreibungen

- Vorgabe über das Verhältnis Musik/Bewegung (z.B. synchron-kontrapunktisch)

Die Begegnung mit einem musikalischen Kunstwerk und dessen Interpretation in Bewegung: Trotz methodischer Vielfalt und subjektiver Auseinandersetzung lebt sie von Zusammenhang und Werktreue.